Einen der Höhepunkte des GVS-Finanzkongresses in Wien stellte sicherlich die Rede von Prof. Hans-Werner Sinn dar. Der renommierte Ökonom, der 17 Jahre lang das IFO Institut für Wirtschaftsforschung leitete, ist ein langjähriger Kritiker der sogenannten Schuldenunion, die auf massenhafte Käufe von Staatsanleihen in Kombination mit Zentralbank-Gelddruckorgien aufbaut. In dieser Praxis sieht er auch eine der Wurzeln für die aktuelle Rekordinflation. Die Europäische Zentralbank (EZB) habe damit den Zunder ausgelegt, der in den letzten Jahren nur auf ein Streichholz treffen musste. Auch die einseitige Schuldzuweisung an Russland für die Teuerungen hält er für eine verkürzte Darstellung.
Verknappung am Weltmarkt führte zu “Stagflation”
Bereits zu Jahresbeginn, als die meisten Bürger die Inflation noch nicht am Schirm hatten, warnte Sinn vor einer langanhaltenden Inflation. Damals versuchte auch EZB-Chefin Christine Lagarde, bekanntlich zudem WEF-Stiftungsrätin, noch zu beschwichtigen. Jeder Inflations-“Buckel” nehme irgendwann wieder ab. Doch ihre Prognose, dass die Inflation auf zwei Prozent abfällt, schlug grob fehl. Aktuell streift die offizielle Inflation in der Eurozone die 8-Prozent-Grenze – im Gegensatz zur Schweiz, wo diese knapp über den besagten zwei Prozent liegt.
Der Grund für den aktuellen Anstieg liegt nach Ansicht Sinns woanders: Die aktuelle Inflation unterscheide sich von üblichen Wellen dadurch, dass die Verknappung nicht aufseiten der Nachfrage, sondern aufseiten des Angebots stattfindet. Schon seit der Corona-Krise gebe es einen Lieferengpass bei Stahl, Holz, Elektrochips, Magnesium, Aluminium und allen wesentlichen Vorprodukten. Über 80 Prozent der deutschen Firmen sprechen davon, es sei schwierig diese auf dem Weltmarkt zu bekommen, zuvor lag dieser Wert niemals über 20 Prozent. Man spricht von einer “Stagflation”.
Erzeugerpreise, nicht Energie als Inflationstreiber
Ehe er auf die Rolle der Zentralbanken einging, erklärte er die aktuellen Krisenlagen im Detail. Zum ersten mal seit 50 Jahren habe man eine die genannte “Stagflation”, es sei somit eine “historische Ausnahmesituation besonderer Art”. Gerade die Quarantäneregeln bei chinesischen Häfen hätte die Verknappung befeuert. Die gewerblichen Erzeugerpreise seien massiv angestiegen – und die Preissteigerung werde teilweise weitergereicht. Die Schweiz habe dies durch eine Aufwertung der eigenen Währung abgefedert – während die Eurozone immer weiter Schulden aufkaufte.
Gewiss habe auch die aktuelle Ölkrise ihren Einfluss auf die Teuerungen, aber der Fokus sei ihm zu vordergründig. Denn diese seien auch nur eine Folge früherer Mechanismen. So hätten die Ölscheichs zu Beginn der Corona-Krise die Ölproduktion gedrosselt, um den weiteren Preisverfall zu stoppen. Tatsächlich erholte sich der Preis damals rasch – aber die Produktionmenge erreichte nie wieder dasselbe Niveau. Auch dort gehe es somit um eine Angebotsverknappung. Dies zeige aber auch, dass einseitige Einschränkungen des Bezugs (wie auch bei Öl- oder Gas-Embargos) den Preis nicht senken würden: Es gebe dann eben andere Abnehmer.
Zweistellige Inflation im August wahrscheinlich
In einem kleinen Exkurs nutzte er dieses Beispiel, um zu erklären, dass dieser Mechanismus auch bei den meisten fossilen Energien keinen Einfluss auf den gesamten Ausstoß haben würde: Steinkohle, Gas oder Öl würden weiterhin weltweit gehandelt. Damit bewirke der Verfall der Produktion in der deutschen Industrie, insbesondere im Automobilsektor, auch keine Umweltrettung, sondern nur ein weiteres Ungleichgewicht zwischen Produktion und Nachfrage. Es hätte auch die sogenannte “Energiewende” einen Einfluss auf die Teuerung.
Insgesamt sei jedenfalls der Anstieg bei Erzeugerpreisen massiv. In Deutschland seien diese bereits um 33,6 Prozent, in Ländern wie Spanien und Italien sogar weit über 40 Prozent angestiegen. Auf die Konsumgüterpreise würden diese nicht ganzt übertragen – allerdings zu 35 Prozent, also mehr als einem Drittel dieser Werte. Die Inflation beim Verbraucher hinke stets um etwa drei Monate hinterher – selbst nach den Gesetzen der Vergangenheit sei also im August mit etwa 12 Prozent Inflation zu rechnen. Die Anzeichen einer kommenden Hyperinflation würden von vielen Medien aber kaum beachtet – und wenn, dann mit einseitigem Blick auf den Ukrainekrieg und den Ölpreis.
Zentralbank kaufte 5 Bio. Euro an Staatspapieren
Dabei sei der Zunder für diesen Flächenbrand bereits vor Jahren ausgelegt worden – und daran trage die Europäische Zentralbank große Verantwortung. Das Eurosystem kaufte nämlich 5,3 Billionen Euro an Staatspapieren, um der Staatsverschuldung südeuropäischer Länder entgegen zu wirken. 83 Prozent seien faktisch Schulden. Es kam durch die dafür nötigen Gelddruckorgien somit zu einer riesigen Geldmengenausweitung. Das viele Geld führte zu sogenannten “Horten” – eine Situation, die schon Ökonomen wie Silvio Gesell oder John Maynard Keynes als problematisch sahen.
Ersterer ist insbesondere für seine Idee des “Schwundgeldes” bekannt, bei der das Geld in einem gewissen Zeitraum ausgegeben werden muss, um nicht seine Kaufkraft zu verlieren. Dies kurbelt dann den Konsum an und verhindert den Überhang der Geldmenge. Aktuell sei aber das Problem das fehlende Angebot und nicht die fehlende Nachfrage. Somit könnte die EZB die Inflation nur stoppen, indem sie Staatspapiere im Wert von über 4 Bio. Euro zurückverkauft. Dies sei kaum möglich: Deren Laufzeit beträgt bis zu 31 Jahre,
Betroffene Länder wären durch den Rückkauf nicht mehr liquide und würden Pleite gehen – und haben so kein Interesse daran. Überall gebe es bereits jetzt ein Problem einer hohen Schuldenquote: Die griechische Schuldenquote betrage 200%, die französische 130%, selbst die deutsche liege mit 65% über den Maastricht-Kriterien.
Zögerliche Bremspolitik verschärfte Geldentwertung
Der Zunder war also durch die enorme Geldmenge schon bereitgelegt – und ein Zündholz wie die Pandemie entfachte diesen. Ein solches Feuer würde auch nach deren allmählichen Ende weiterbrennen – und auch stabile Holzbalken beschädigen, um bei diesem Sprachbild zu bleiben. Die Notenbanken befeuerten die Schuldenexzesse, indem sie diese bereitwillig kauften. In der Zwischenzeit bekamen Bürger etwa durch Kurzarbeiter Geld für keine Arbeitsleistung als Gegenwert, das sie auch nicht ausgeben konnten, weil die Läden damals geschlossen waren. Dies verschärfte den Effekt.
Die Bildung von Horten durch die EZB-Schuldenpolitik bremst auch den Effekt, den eine Zinssteigerung – wie sie die Schweiz, Großbritannien und die USA vornahmen – haben würden. Dennoch beschädigte die EZB den Euro zusätzlich durch ihre zögerliche Bremspolitik. Anleger würden europäische Papiere nun in Übersee verkaufen: Der Dollar steige an, der Euro verfalle im Wert. Es folge somit eine “importierte Inflation”: Alle Importwarenpreise, auch die Energiepreise steigen an – bis zu 17 Prozent. Im Glauben auf eine Preissteigerung würden Firmen die Vorprodukte horten, was die Inflation noch stärker ankurbelt.
“Können Russen Gashahn abdrehen, nicht aber Geldhahn”
Freilich habe auch die Ukrainekrise einen Einfluss auf die Teuerungen. Allerdings sei die Energiepreisinflation insbesondere am Ölmarkt nicht so ungewöhnlich – sondern hauptsächlich die weltweite Verknappung an Industriegütern. Große Inflationen träfen unsere Länder alle 50 Jahre: 1922 – 1972 – 2022 – ein “Zufall, aber interessant”. Der Erdgas-Preisanstieg wiederum sei sehr wohl außergewöhnlich. Insgesamt sei aber festzustellen: Beide Seiten haben Verträge gebrochen. Dass Russland keine Freude damit habe, wenn bereits geliefertes Gas nicht bezahlt, werde, müsse man zumindest “verstehen”. Zudem hätten westliche Länder die russischen Fremdwährungsbestände konfisziert, die Russen verlangen seitdem nun eine Bezahlung in Rubel.
Die Situation sei allerdings auch ein Lehrstück für Deutschland. Dies gilt laut Sinn doppelt, weil keine Energiewende aus der Abhängigkeit von anderen Ländern befreit – eben wegen der Notwendigkeit von Gas zur Füllung der Dunkelflauten, wo kein Wind geht und keine Sonne scheint. Der Bedarf könnte gar bedeuten, die Anlagen verfünffachen zu müssen. Der “Kotau Habecks bei den Arabern”, als er dort um Flüssiggas bettelte, sei ein “Offenbarungseid”. Die Gesamtsituation heiße aber auch: “Wir können Russland den Gashahn abdrehen, nicht aber den Geldhahn.” Dieser verkaufe sein Gas mit lukrativen Verträgen nach China. Die Sanktionen sind somit kontraproduktiv. Hierzulande würden die Importpreise durch die freiwillige westliche Angebotsverknappung indes ansteigen.
Zusammenfall der Inflationstreibe: Neue Tortilla-Krise?
Die aktuelle Füllmenge der Gasspeicher reiche im Winter nur etwas mehr als einen Monat. Wenn nicht nur die Energie ausbleibt, sondern auch Ernteausfälle die Versorgungslage verschlimmern, wird es laut Sinn ein harter Winter. Er warnt sogar: Die Tortilla-Krise könnte sich wiederholen. Ab 2005 verteuerte sich zuerst der Marktpreis für Mais – nach der Umwidmung der Felder durch Bauern wurde der Weizen knapp. Dann stieg man auf Reis um. Alle drei Preise stiegen weltweit um das Dreifache. Es folgten daraufhin Hungerproteste in 37 Ländern. Eine solche Situation könne sich wiederholen.
Nach nahezu zwei Stunden intensiver fundierter Ausführungen mit vielen Daten fasste Sinn seine Schlussfolgerungen zusammen: Die Verschleppung der Corona-Krise insbesondere durch die China-Lockdowns verschärfte die Verknappungstendenzen. Die Welt stecke im Wechselspiel aus Lieferengpässen, Energieknappheit und staatlicher Verschuldungsorgien in einer Stagflation. Der EZB wiederum sei die Kontrolle des Preisniveaus völlig entglitten. In dieser Gemengelage sei der inflationäre Schub in Deutschland größer als je zuvor in der Geschichte, in Spanien und Italien sei es noch schlimmer.
Link zum Originalbeitrag: https://www.wochenblick.at/wirtschaft/prof-sinn-ezb-hat-zunder-fuer-inflation-ausgelegt-corona-war-das-streichholz/